Konsum, Alltag und Globalisierung
28. Mai 2007 um 20:02 von Ralph
Seit gut sieben Jahren komme ich in den Genuss, vom Wohnzimmer oder der Terrasse aus einen halbwilden Garten beobachten zu können. Wenn im Sommer die Tür aufsteht, fliegen Insekten in die Wohnung und manches Mal habe ich mich schon über die Vielfalt gewundert. Auch viele Vögel habe ich im Laufe der Jahre kennengelernt und dabei beobachtet, dass immer mehr Arten den Garten und seine Umgebung auch zur Aufzucht ihrer Kleinen benutzen. Erstaunlich ist auch, wieviele Vögel hier auf engsten Raum leben können: Ein Elsternpaar und zwei Taubenpaare (darunter Türkentauben), ein Amselpaar, brütende Kohlmeisen direkt neben der Terassentür, zwischendurch Banden von Buchfinken, auch Grünlinge, der Baumläufer, der die Rinde der alten Zwillingsbirke bearbeitet, das neugiere Rotkehlchen, der manchmal sehr hektische Zaunkönig, sowie Gruppen von Blau- und Schwanzmeisen und die unscheinbare Heckenbraunelle. Manchmal kommen auch Eichelhäher und Specht zu Besuch.
Diese Vielfalt mitten in der Stadt und am Stadtrand macht auch das wunderbare Buch Stadtnatur vom Zoologen Josef H. Reichholf zum Thema. Und wie der Untertitel „Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen“ andeutet, verfolgt der Autor die zentrale These, dass die Städte zunehmend zu „Inseln der Artenvielfalt“ werden. Mit Sachkunde und recht vielen Zahlenreihen belegt der Autor seine These. Ausführlich zeigt er die Ursachen für diese Naturwanderung auf. Da wäre „der Strukturreichtum“ der Stadt, der im Vergleich zur Monokultur auf dem Land ideale Umgebungen für viele Arten schaffe. Überraschend auch der Befund, dass gerade die nährstoffarmen Böden der Städte im Vergleich zu den überdüngten Böden auf dem Land eine Voraussetzung für die Artenvielfalt darstelle. Der Autor kommt in diesem Kapitel zu dem Schluss:
Nochmals sei hier betont, dass es um das „Urteil“ der Pflanzen und Tiere selbst geht, und nicht um Wünsche oder Vorstellungen der Menschen, die Leitbilder zur Natur und ihrer Erhaltung in guter Absicht aufstellen. Die Wirklichkeit sieht bekanntlich nicht selten ganz anders aus. Wenn in einem nur 6000 Quadratmeter kleinen, allseits von hohen Gebäuden abgeschlossenen Innenhof in der Schlossanlage von Nymphenburg in München nach vier Jahren Lichtfang die staatliche Anzahl von fast 400 verschiedenen nachtaktiven Schmetterlingsarten zusammengekommen war, so drückt dieser Artenreichtum höchst deutlich aus, wie sehr wir uns verschätzen können, wenn wir meinen, die Stadt sei einfach von vornherein „schlecht“ und das Land „gut“.
Neben weiteren Ursachen für die Eroberung der Stadt durch die Natur, die Josef H. Reichholf überzeugend darlegt, besticht das Buch durch überraschende, Vorurteile beseitigende und höchst interessante Erkenntnisse über Tiere und ihr Verhalten in der Stadt. Da ich ein Freund der Raben, Krähen und Dohlen bin, habe ich mit Spannung das Kapitel „Stadtkrähen – unbeliebt aber intelligent“ gelesen. Es legt dar, warum sich das städtische Leben der Krähenvögel ohne Bejagung selbst regulieren kann und warum für diese Singvögel der Lebensraum Stadt so attraktiv ist. Zudem wird ihre Intelligenz und ihre erstaunliche Beobachtungsgabe eindrucksvoll beschrieben, was Krähenhasser beschämen müsste, wenn sie ein positives Verhältnis zur Intelligenz hätten. ;-)
Nicht nur das Kapitel über Krähen bringt uns die Natur so näher, wie sie ist. Der Leser wird zudem entführt in das Reich der Amseln, Vögel, die noch vor ein paar Jahrhunderten sehr scheue Waldvögel waren und heute recht zutraulich werden können. Und wer denkt, Lerchen könnten in der lauten Stadt nicht singen, muss nach der Lektüre einsehen, dass er falsch gedacht hat. Überhaupt wird der Leser immer wieder in Erstaunen versetzt, wenn er erfährt, wieviele Tiere (Füchse, Glühwürmchen, Dachse, Marder, Seeadler und viele mehr) wo in der Stadt ihr Auskommen finden und welche Abhängigkeiten es gibt.
Das Buch wäre nur halb so gut, wenn der Autor nicht auch auf Gefahren und Plagen eingehen würde. So hat die Ausbreitung des Fuchses in der Stadt auch eine Verbreitung des gefährlichen Kleinen Fuchsbandwurms mit sich gebracht und der putzige Igel kann von Zecken befallen sein, die sich so auch in Kleingärten und öffentlichen Grünanalagen ausbreiten können. Dagegen ist die Plage der Nacktschnecken, konkret der Spanischen Wegschnecke, das kleinere Übel für den Menschen, ein „Übel“, das erstaunlicherweise eng im Zusammenhang mit der intensiven Rasenpflege steht, da regelmäßiges Rasenmähen für besonders proteinhaltige junge Rasenspitzen sorgt, die die Spanische Wegschnecken optimal nähren, und nicht nur die!
Das Buch ist für Naturfreunde ein Muss und Stadtplaner könnten sich an den sieben Thesen am Ende des Buches versuchen. Insgesamt hilft es, unsere menschenzentrierte Sicht auf Tiere und Pflanzen zu relativieren und den Respekt gegenüber der Natur zu fördern. Ich wünsche, dass es dazu beiträgt, die Natur nicht mehr in Schubladen einzusortieren: Hier der Medienstar Knut, dort die bösen Krähenvögel, hier die süssen Singvögel, dort die verhassten Tauben, hier ein Blumenbeet aus dem Baumarkt, dort „dreckmachende“ Birken. Es gibt keine Natur „zweiter Klasse“, das ist eine Erkenntnis, die das Buch so wertvoll macht.
Thematik: Buch und Film,Faszination Natur . .
9 Kommentare
1. goestern | 29.05.07 um 13:49
Prima. Schön. Danke für den Tipp.
Wasser auf meine Mühlen :-)
2. Ralph | 29.05.07 um 14:16
Gerne! – Die kleinen Wunder direkt vor der Haustür, man muss sie nur wahrnehmen lernen … ;)
3. Macsico | 29.05.07 um 15:02
Danke für die schöne ausführliche Vorstellung dieses Buches.
Und danke für das Hervorheben des Gedankens, der auch mir immer öfters in den letzten Jahren in den Sinn kommt – wenn man nicht wirklich verstanden hat, wie etwas funktioniert, sollte man als Mensch lieber die Finger davon lassen. Und das wir bisher viel zu oft weniger als die Hälfte verstanden haben, beweisen unsere großen Fehlleistungen bei maximalinvasiven Natureingriffen.
Mit unserem geringen Wissen über das, was uns umgibt, versuchen wir uns an der Konkurrenz zu einem natürlichen System, welches ein paar Milliarden Jahre Entwicklungsvorsprung hat.
Rein unter Marketinggesichtspunkten halte ich mich lieber an den, der mehr Marktkenntnis hat. ;-)
4. Ralph | 29.05.07 um 15:26
„… ein paar Milliarden Jahre Entwicklungsvorsprung“, der ist es, der unsere Naturbeherrschungsversuche so lächerlich macht, wenn da nicht diese immense Zerstörungswut wäre, diese fast schon perverse Entfremdung …
5. sam | 29.05.07 um 15:26
Wir haben mitten in der Dortmunder Innenstadt auch nette kleine Mitbewohner (also nicht im Haus ;-), sondern um uns herum. Eichhörnchen. Wir nennen sie schon Stadthörnchen, weil sie sich so gut in die Wohngebiete integriert haben. Das ist wirklich schön anzusehen und es scheint ihnen nichts auszumachen. Ich glaube, die fühlen sich auf den dicken Bäumen zwischen den ganzen Häusern und Gärten recht wohl. Dort leben auch eine ganze Menge verschiedener Vögel. Nur leider kommen die (bis auf Tauben) nicht zu uns auf den Balkon. :-( Trotz Futter.
6. Ralph | 30.05.07 um 05:32
Die Stadthörnchen können aber auch ganz schöne Raubhörnchen sein ;-)
7. mutant | 31.05.07 um 20:20
piepvoegel, maeuse, kroeten, igel, marder, alles hier unterwegs.
gefaellt mir.
dazu noch jede menge hummeln und anderes fliegzeug.
nur die nacktschnecken koennten wegbleiben.
8. Ralph | 31.05.07 um 20:24
Verschiedene Hummeln aber auch Bienen haben wir auch hier. An den warmen Tagen im April haben wir sie bereits nicht selten mit Glas und Pappe aus der Wohnung befördert. Ist doch besser, wenn sie in tiefen Blüten sich verkriechen und Flügel-Musik machen. ;-)
9. Bert | 28.10.07 um 20:55
Der Titel des Buches ist wirklich mal interessant. Das Buch scheint sich von anderen bisherigen zu unterscheiden, ich denke, eine Bestellung wird folgen, Danke für den Tipp!